Als die Zeit still stand
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Erfahrungsbeschreibung:

3. Mai 1967

"B" Co., 2nd Bn/47' Inf (Mech.), 9' Inf Div.

Es war gegen Ende der trockenen Jahreszeit und mein Zug zog ab. Unsere Mission war einfach: die Straße hinunter zu fahren, die Flagge zu hissen und darauf zu achten, dass wir noch immer den Vorrang hatten. Die zwei langsam dahinrasselnden Kettenfahrzeuge (Schützenpanzerwagen) vor mir wirbelten den pulverisierten Schmutz auf der Straße in kleinen Staubwolken auf.

Lady, das Maskottchen des Zuges, trabte nebenher und wedelte mit ihrem Schwanz. Sie fuhr mit uns nicht mehr mit, seitdem eine Mine das Kettenfahrzeug, auf dem sie untergebracht war, in die Luft gejagt hatte. Ich tauschte meine wollene Mütze mit einem Stahlhelm, setzte meine drahtrandige Sonnenbrille auf und brachte das 50 kalibrige Maschinengewehr in Vorderraststellung, als wir durch das Tor des Basislagers fuhren und immer schneller wurden. Lady blieb in kurzer Entfernung  vom  Ausfahrtstor stehen und beobachtete, wie wir wegfuhren.

Unsere vier Kettenfahrzeuge erreichten bald eine eintönige, aber angenehme Geschwindigkeit von 40 Meilen die Stunde, was uns einen angenehmen Fahrtwind verschaffte. Auf beiden Seiten der Straße zog sich ein Gitterwerk von Reisfeldern und Gräben, welche das Land in saubere Rechtecke von verschiedener Größe aufteilten. Die blassgelben Stoppeln der vergangenen Ernte konnten die Erde auf den Feldern nicht verdecken. Der Lehmboden der Reisfelder , der durch bis zu ein Inch breite Sprünge aufgerissen war, hatte sich zu trockenen Blöcken geformt.  Obwohl das Land flach war, dehnten sich die Felder nicht weit aus sondern endeten abrupt bei dem überall vorhandenen Wald.

Dieser Wald bestand aus üppigen, dichten grünen Nipapalmen und war  zwanzig bis dreißig Fuß hoch. Nirgendwo im Mekong Delta konnte man ihm auskommen. Manchmal konnte er ein paar Meilen weg sein, dann wiederum nur einig hundert Fuß. Er wuchs überall dort, wo die Flussarme waren und diese Flussmündungen waren wie die Wurzeln einer Pflanze überall. „Wir“ kontrollierten die größeren Städte und Dörfer, die Straßen, den Luftraum, die bedeutendsten Wasserstraßen und die Reisfelder. Die Wälder gehörten „Charlie“.

Unsere Dieselmotoren heulten auf und  zogen nach sich eine riesige meilenlange Staubwolke, als sich unsere Kolonne einem der Orte näherte, wo der gefürchtete Dschungel von beiden Seiten ganz nahe an unsere Straße herankam. Instinktiv begann ich das Wäldchen genauer zu beobachten. Ganz plötzlich  wurde eine große Panzerabwehrmine direkt unter uns ferngezündet. Ich wusste sofort, was passierte (weil mein Kettenfahrzeug schon vor drei Wochen  in die Luft gejagt wurde) und ich dachte mir, “Ach, schon wieder!“ Ich wurde zusammen  mit meinen Kameraden und allem übrigen in die Luft geschleudert.  Die Mannschaft, der Staub, die Waffen, die Munition, die Helme und  die Behälter mit der Grundversorgung bildeten einen sich ausbreitenden verkehrten Kegel, wobei ich in der Mitte war.

Als wir nach oben flogen, verlangsamte sich die Zeit.  Die Drehungen all der Gegenstände rund um mich  verlangsamten sich sehr, als ob das Gesetz der Bewahrung  der Fliehkraft aufgehoben worden sei. Ich war fasziniert durch diese unnatürliche, immer langsamer werdende Kreisbewegung meiner Kameraden und ich fragte mich, “Ist das das Ende? Sind wir alle tot?” Am Höhepunkt meiner Flugbahn stand die Zeit vollkommen still und eine unerklärliche Ruhe überkam mich. Der Bewusstseinstand, der mich überkam, entsprach so dem normalen Wachzustand wie der normale Wachzustand einem Traum entspricht. Was auch immer es war, es war friedlich (zeitlich und räumlich), allwissend und es ging ganz in ein unteilbares Ganzes auf.

Das ganze Universum samt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stürzte ein bis zu einem einzigen Zentrum, von dem jegliche Existenz abhängt. Es ist dieses  Zentrum, welches unveränderlich ist.  Es ist das „Licht“ der reinen Erkenntnis welche alle Dinge durchflutet und erleuchtet. Es ist die letztmögliche Bedeutung der rätselhaften Bibelstelle, die da lautet: „Das Auge ist die Leuchte Deines Leibes. Ist Dein Auge gesund, so hat Dein ganzer Leib Licht (Matthäus, 6, 22)“.  Es ist das große Nichts – denn es enthält alles und ist deshalb nichts. So wird es zu allem in allem.

Außerdem kann es bezüglich der Echtheit meines Erlebnisses keine Zweifel geben, es sei denn man würde bezweifeln nach dem Erwachen aus dem Traum, dass der Wachzustand  real ist und dass der Traum “nur ein Traum” ist. Kurz gesagt, Gott selbst  nahm die Zügel in die Hand in dem Sinne, dass mein “Ich” nicht länger als eine bestimmte Wesensart existierte, sondern nur Er da war.  Es gab ein überwältigendes Gefühl der Seligkeit, der Liebe,  des Mitleids und eigenartigerweise das blitzartig auftretende Gefühl von  deja vu (=das war schon einmal). Ich bekam die Erkenntnis, dass die wirkliche Heimat und das wahre Sein aller Dinge sich mir auf wunderbare Art  geoffenbart hatten.

meines Lebens zogen langsam und  mich nicht verurteilend an mir vorbei, allerdings nicht in zeitlicher Abfolge sondern irgendwie alle auf einmal; daneben gab es einige Erlebnisse, die stärker betont waren als andere. In der Folge durfte mein “Ich” wieder als Person existieren (es gab keine Wahlmöglichkeit – es passierte einfach) und ich erhielt die Möglichkeit alles zu erfassen, was ich wollte unter der Maßgabe, dass die  Zeit keine Rolle spielte; tatsächlich hatte ich „soviel Zeit ich nur wollte.“  Ich konzentrierte mich auf diesen oder jenen Aspekt in meinem Leben und  zog den Schluss, dass ich mich keiner Sache schämen musste.  Tatsächlich nützte ich diese Gabe nur sehr mäßig, aber zu der Zeit war ich ein naiver 22jähriger Mann mit einer beschränkten Auffassung von dem, was wirklich wichtig war.

Ich hatte eine Panoramasicht aus einem Winkel von 360 Grad und konnte gleichzeitig die Straße, den Dschungel auf beiden Seiten der Straße und die beiden anderen Kettenfahrzeuge meines Zuges (zwei vorne und einer hinter uns) sehen. Die ganze Episode spielte sich in meinem Kopf ab, aber ich war mir nicht sicher, ob mein Kopf noch in meinem Körper steckte – obwohl unter diesen Umständen mir das nicht sehr wichtig schien. In anderen Worten, es war mir egal, ob mein Leben innerhalb der nächsten Sekunden ausgelöscht würde oder nicht. Dann wurde ich sanft aber unmissverständlich “informiert”, dass ich die Explosion ohne schwere Verletzung überleben würde und dass ich sogar heil aus Vietnam herauskommen würde.  Selbstsüchtig wie ich nun einmal war, wandte ich meine Aufmerksamkeit der momentanen Situation zu und schloss ruhig und überlegt, dass ich: 1. bei Bewusstsein bleiben müsse, damit ich nicht  in dem zwei Inch tiefen Rinnsal im Reisfeld ertrinke  2. locker zu bleiben hatte, damit ich mir so wenig Knochen wie möglich brechen würde 3.  weit weg vom Kettenfahrzeug landen müsse, damit es mich nicht erdrückt, sollte es sich überschlagen. Erst als mein Bewusstsein keine Dinge mehr zum Entscheiden hatte, kehrte mein Zeitgefühl rasch zurück. Der transzendentale Bewusstseinstand endete und ich kehrte in den normalen Wachzustand zurück. Ich konnte den Boden aus ungefähr 20 Fuß Entfernung von oben sehen und begann herunterzustürzen.

Übrig blieb ein inniges Gefühl von Ehrfurcht und Wohlbefinden.  Seit damals habe ich die Überzeugung, dass Gott existiert. Diese Überzeugung übertrifft noch diejenige, dass zwei plus zwei vier ist.   Für mich ist das jetzt nicht mehr eine Angelegenheit des Vertrauens und des Glaubens, sondern des sicheren Wissens, weil ich ihn gesehen habe so wie er ist.  Allerdings war es eine angenehme Überraschung zu erfahren, dass er liebevoll, mitleidend und vergebungsbereit ist – alles Eigenschaften, die ich früher ihm nicht zugeschrieben hätte. Ich werde ihm immer dankbar sein, dass er sich mir zugewandt hatte und mich sozusagen in seinen Arm genommen hatte in diesem besonderen Augenblick; eigentlich kommen mir noch immer Tränen der Dankbarkeit, wenn ich dreißig Jahre später davon berichte. Ich fürchte mich auch nicht länger vor dem Tod (vor Schmerzen und vor dem Leiden schon, aber nicht vor dem Tod) -  weil ich, der Regentropfen von ganz besonderer Art durch seine Gnade an den Ozean denken kann, aus dem er kommt. Unglücklicherweise liegt die Erfahrung eines solchen Zustandes bei Gott und nicht bei uns – aber man kann hundertprozentig sicher sein, dass er hier und jetzt immer da ist, auf jeden Fall viel näher als man glauben kann.

Ich habe weder vorher noch nachher etwas Ähnliches erlebt, das dem Bewusstseinstand, den ich mir Mühe gegeben habe zu beschreiben, an Realität und Tiefe nahe kommen könnte. Allerdings hat meine Erinnerung daran ausgereicht, mich zu trösten in den Härtefällen des Lebens.  Leider habe ich keine paranormalen, sensitiven oder übernatürlichen Fähigkeiten an mir entdeckt – außer der unerschütterlichen Überzeugung, dass es etwas Spirituelles wirklich gibt. Sollten Sie eine todsichere Methode kennen, mit der man diesen Zustand wieder herstellen kann (ohne mich in die Luft zu jagen oder mir zu sagen, ich solle dreißig Jahre meditieren) lassen Sie es mich bitte wissen. Gott sei mit Ihnen! (Er wird es ohnedies sein, aber es ist ein netter Gedanke.)